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Der Anarchist und die Schulden

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 BeitragVerfasst: Di 29. Mai 2012, 15:01   
 

Registriert: Mi 5. Jan 2011, 17:54
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Wohnort: Berlin
Der Anarchist und die Schulden
David Graeber ruft zum Ablassjahr auf


von Samira Lazarovic

Das begehrteste Buch des Jahres ist in der 5. Auflage ausverkauft, bei Amazon wartet man aktuell mindestens 9 Tage darauf und auch die Redaktion erreicht das Rezensionsexemplar erst kurz vor dem Interviewtermin. So turbulent geht es auf dem Büchermarkt höchstens bei fiktionalen Werken wie "Harry Potter" oder bei Herrn Sarrazin zu. Der Ansturm sei unglaublich, bestätigt die Pressesprecherin des Verlags. Einen solchen Andrang habe sie überhaupt noch nie erlebt. Derzeit gehe es von den Lesungen zu Interviews und Fernsehauftritten und wieder zurück.

"Lassen Sie mich sehen, wie viel Sie in einer Nacht lesen konnten", sagt David Graeber beim Treffen und greift nach dem Buch, das gut sichtbar aus der Tasche ragt. Die ersten drei Kapitel und den Schluss. "Da können Sie sich noch auf was freuen, der Mittelteil ist der Beste!", sagt Graeber und schnaubt belustigt durch die Nase. Letzteres wird er während des Gesprächs noch öfter tun und zwar immer, wenn er darüber spricht, wie vielen Irrtümern und Mythen die moderne Ökonomie beim Thema Schulden immer noch verfallen ist.

Unverzeihliche Schulden
Genau die sind nämlich das Thema seines Buches "Schulden - Die ersten 5000 Jahre", das nicht nur von zahlreichen Medien und linken Aktivisten, sondern auch von der Finanzwelt als "wichtigstes Buch des Jahres" geadelt wird. Schulden sind mittlerweile das zentrale Thema der internationalen Politik, stellt Graeber fest. Aber niemand scheint genau zu wissen, was es damit auf sich hat. Bereits vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 fing der Aktivist und Sozialwissenschaftler an, das Buch zu schreiben. "Im Jahr 2007 wusste bereits jeder, was passieren würde", betont Graeber. "Und ich war fasziniert von der Frage nach Schulden und fand es seltsam, dass sich bis dahin niemand mit der Geschichte der Schulden beschäftigt hatte."

Besonders ein Aspekt irritiert den Anthropologen bei seinen Recherchen: Warum setzt die moralische Verpflichtung, Schulden zu begleichen, jede andere Moral außer Kraft? "Schulden muss man bezahlen, das hört man immer, aber keiner fragt, warum", erklärt Graeber. "Es heißt, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Aber das ist natürlich offensichtlich ein Trick, weil wir unseren Schuldnern niemals vergeben."

Ein System ohne Schulden ist ein effizienteres, nur ein Schuldenerlass könne derzeit unser System gesunden lassen, glaubt der 51-Jährige. Den Einwand, dass Kredite eine Voraussetzung für den Handel sind und Unternehmen oft nur produzieren können, wenn sie im Voraus Geld kriegen, lässt er nicht gelten: Er habe nicht vorgeschlagen, irgendeine Kreditvergabe illegal zu machen. "Ich weise auf historische Lösungen für das Problem von Schuldenkrisen hin. Schon vor Tausenden vor Jahren hat es in Mesopotamien immer wieder periodische Schuldenerlässe gegeben, ebenso wie in biblischen Zeiten das sogenannte Ablassjahr alle 7 bis 49 Jahre. Die Schulden wurden gemacht, angehäuft, führten zu Krisen und wurden schließlich erlassen. Und dann fing wieder alles von vorne an. Das war die ursprüngliche Idee. Das haben wir jahrtausendelang falsch verstanden."

Das Märchen vom Tauschhandel
Als Grund für diesen Irrtum sieht Graeber, der sich selbst als anarchistisch-links einordnet, das, was er den "Gründungsmythos der Wirtschaftswissenschaften" nennt: Für Ökonomen beginne die Geschichte des Geldes immer mit einer Fantasievorstellung von einer Welt mit Tauschhandel. Adam Smith habe 1776 diese Geschichte vom Tausch von Fisch gegen Weizen erzählt und damit die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften begründet. Anthropologen hätten jedoch festgestellt, dass die Menschen nie wirklich direkten Tauschhandel miteinander getrieben haben. Kreditsysteme, also das, was wir heute als virtuelles Geld bezeichnen würden, habe es dagegen schon in Mesopotamien gegeben.

Aber warum hat keiner der Ökonomen diesen Fehler festgestellt, warum waren dazu die Anthropologen nötig? "Die Anthropologen haben es immer wieder erklärt und die Ökonomen haben nicht zugehört - sie hielten an ihrem Gründungsmythos fest." Und so sei die Geschichte des Geldes nicht nur falsch, sondern quasi rückwärts erzählt worden: erst der Tauschhandel, dann Geld als vereinfachendes Handelsmittel, dann der Kredit. "Aber der Kredit war vor dem Münzgeld da". Und dieser Kredit gründete auf einen Vertrauensvorschuss. "Dieses Vertrauen und alle anderen menschlichen Beziehungen untereinander wurden in den ökonomischen Modellen ausgeblendet, damit sie besser in die mathematischen Formeln passten."

Schulden und Zinseszins
Wie stark Schulden und Vertrauen zusammenhängen, zeigt sich auch in der Finanzkrise. Oder wie lässt sich sonst erklären, wie emotional dieses Thema gerade auch in Deutschland diskutiert wird? "Es ist offenkundig, dass die Moral der Schulden besonders in Deutschland Ängste auslöst, denn in gewisser Hinsicht bringt sich das Land politisch in eine Falle, indem es die Moral für sich beansprucht. Eher sarkastisch als ökonomisch gesprochen haben sich die Deutschen in eine Lage gebracht, in der sie die EU zerstören könnten, was natürlich eine große Katastrophe für sie wäre. Das Buch zeigt, dass das ein moralisches und kein ökonomisches Problem ist und liefert damit eine Perspektive."

In Europa hätten die Länder versucht, die Schuldbeziehungen einzusetzen, um Kontrolle zu gewinnen, ist Graeber überzeugt. Früher wären das militärische Maßnahmen gewesen. "Aber sie kleiden es in Worte und sagen, wir tun ihnen einen Gefallen. Leute sagen so verrückte Sachen wie, wir geben Griechenland Geld. Nun, Geld leihen ist nicht gerade Geld geben. Tatsächlich kriegst du sogar mehr zurück, als du gegeben hast."

Aber wenn der Zinseszins das größte Problem ist, könnte man ihn doch aufgeben, wenn man schon nicht von den Schulden lassen kann. "Richtig", nickt Graeber bestätigend. "Historisch gesehen gab es immer wieder die Regel, dass Zinsen den Leihbetrag nicht überschreiten dürfen. Aber über die Länder der Dritten Welt wird heute immer wieder gesagt, sie haben Schulden nicht zurückgezahlt. Natürlich haben sie das, sie haben die Summe drei- oder vierfach zurückgezahlt!" Dennoch würden die Verpflichtungen wegen des Wunders der Zinseszinsen offensichtlich niemals enden. Graeber würde auch gerne den Gesamtbetrag kennen, der von Deutschland nach Griechenland floss und die Summe, die umgekehrt von Griechenland nach Deutschland überwiesen wurde: "Ich bin sicher, dass Griechenland mehr geliefert hat, als Deutschland jemals gezahlt hat."

Perfektes Timing
Dass solche Thesen Diskussionsstoff bieten, ist Graeber bewusst. Das Ausmaß des Interesses hierzulande hat ihn dennoch überrascht. So sind im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann schon eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung die grob 100 Sitzplätze restlos belegt, ohne dass der Zuschauerstrom abreißt. Immer mehr Menschen gruppieren sich um Büchertisch und Bühne und lesen schon vor Beginn der Veranstaltung konzentriert im frisch erworbenen Buch. Von jungen Männern, die man sich gut in einem Occupy-Camp vorstellen kann, bis hin zu älteren Zuhörern, Marke Wutbürger, reicht das Spektrum.

Zwar ist niemand dabei, der die Schuldenthese vehement abstreitet, dennoch muss sich Graeber auch kritischen Fragen stellen. An einen der führenden Denker der Occupy-Bewegung werden offenbar besonders hohe moralische Ansprüche gestellt. Aber ob es um Schulden oder Occupy geht, Graeber beantwortet alle Fragen gleichbleibend freundlich. Auch die, ob ihm das Geschäftsgebaren der Firma Dussmann bekannt sei? Nein, antwortet Graeber, aber er könne gerne mit den Angestellten sprechen, wenn das wichtig sei.

Werden denn seine Leser zufrieden sein mit dem, was er ihnen im Buch anbietet? Vermutlich nicht, glaubt der Autor. Das sei aber auch nicht die Idee gewesen. Tatsächlich schlüsselt Graeber in dem Buch zwar detail- und anekdotenreich die Geschichte der Schulden auf, gibt aber keine Handlungsanweisungen für die Zukunft.

Er habe es weitgehend vermieden, konkrete Vorschläge zu machen, heißt es schließlich auf Seite 410. Er habe nur den Eindruck, dass ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild überfällig sei, weil es menschliches Leid lindern könne und uns daran erinnere, dass Geld nichts geheimnisvoll-unvergleichliches sei. "Ich will kein wiederkehrendes Sabbatjahr einführen, sondern ein einmaliges Ereignis", präzisiert Graeber im Gespräch. Es sei ein Missverständnis, wenn man meine, ein Schuldenerlass würde zu anarchischen Verhältnissen führen. Schließlich habe das Jahr 2008 auch gezeigt, dass die Welt sich weiterdreht, wenn Schulden nicht zurückgezahlt werden - keine der Großbanken hätte dies getan.

Warum Occupy keine Forderungen stellt
Auch wenn Graeber also weder eine endgültige Lösung der Schuldenkrise im Buch aufzeigt noch sich die nächsten 5000 Jahre vorzustellen vermag, ist das Lesen von "Schulden" ein Gewinn - besonders der Mittelteil. Man erfährt, dass auch Keynes seine mesopotamische Phase hatte, den "babylonischen Wahnsinn" wie er es nannte, und kann gleich weitererzählen, dass der "Zauberer von Oz" in Wirklichkeit eine Parabel über die angestrebte Einführung des Silberstandards war. Unterhaltsam wie die "Freakonomics" und dabei so fundiert wie ein klassisches Ökonomiebuch führt der Anthropologe durch die Geschichte, stellt die verschiedenen Denkmodelle vor und lädt zum Mitdenken ein. Tatsächlich eines der wichtigsten Bücher zur Finanzkrise, das dankenswerter weise mit Fußnoten statt mit Polemik arbeitet.

Für ihn gehe es bei Anarchie darum, das System infrage zu stellen, sagt der Autor, an dessen äußerem Erscheinungsbild vermutlich die karierten Socken das anarchischste sind. Das sei ein Grund, weswegen die Occupy-Bewegung in den USA keine Forderungen an das gegenwärtige, kaputte System stelle: "Wir werden es nicht legitimieren, in dem wir sie bitten, sich besser zu benehmen, weil wir nicht glauben, dass sie es wirklich können."

Aber gibt es für jemanden, dessen Vater bereits als Anarchist im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, überhaupt eine Gesellschaftsform, in der er kein Anarchist wäre? Vielleicht, sagt Graeber nachdenklich. Er würde gerne eine Gesellschaft erleben, in der die Menschen der Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse so sicher seien, das sie ihren Träumen nachgehen könnten. "Die Leute würden mit Sachen ankommen, die wir uns kaum vorstellen können. Dafür müssten wir die Arbeitszeit massiv reduzieren, beispielsweise nur noch 4 Stunden pro Tag arbeiten, um die Zeit zu finden, das zu tun."

Er sei sehr Technik-vernarrt und davon überzeugt, dass der Kapitalismus den technologischen Fortschritt ausgebremst habe: "Er hat uns abgehalten, den Weltraum weiter zu erkunden oder all die großartigen Spielsachen zu erfinden, die wir jetzt schon haben sollten, wie das Hoverboard zum Beispiel." Also all die Dinge, die uns in dem Film "Zurück in die Zukunft" versprochen wurden? "Ja, genau! Wir müssen den Kapitalismus los werden, Kapitalismus wird uns das nicht bringen, wir brauchen ein anderes ökonomisches System. Das Finanzsystem wird sich in jedem Fall grundlegend ändern. Die Frage ist nur, wie."

Adresse:
http://www.teleboerse.de/nachrichten/do ... 72011.html


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